Heute und morgen wollte ich endlich einmal die geschichtsträchtigen Stätten an der Ärmelkanalküste der Normandie besuchen, die bei der Landung der Alliierten Streitkräfte am Morgen des 6. Juni 1944 eine so bedeutende Rolle gespielt hatten.
Ich habe in meinem bisherigen Leben schon so viele Berichte über den so genannten D-Day und die Operation Overlord gelesen und so viele Kriegsfilme und unzählige Dokumentationen darüber gesehen, dass bei mir bereits seit meiner Kindheit der Wunsch bestand, diese Plätze irgendwann einmal selbst zu besuchen und mir dort alles in Ruhe ansehen zu können.
Ich dachte mir, dass man die Bedeutung der damaligen Geschehnisse, die zu der großen Wende im Zweiten Weltkrieg geführt hatten, noch intensiver erfassen kann, wenn man sich direkt vor Ort befindet! Wie intensiv, das hätte ich allerdings nicht für möglich gehalten…
Aber eines nach dem anderen! Nach dem Frühstück auf dem Wohnmobil-Stellplatz in Honfleur fuhr ich zunächst zu einer Tankstelle am Ortsausgang; mein allererster Tankstopp in Frankreich war fällig und ich war sehr gespannt, wie das wohl klappen würde. Um es kurz zu machen: Es gab überhaupt keinerlei Probleme! Die Zapfsäulen akzeptieren alle möglichen Geldkarten, und ihre Bedienung ist wirklich kinderleicht. Der Bildschirm weist als erstes auf einen Knopf oder ein Symbol hin, durch den bzw. das man die gewünschte Sprache auswählen kann, danach läuft alles wie am Schnürchen! Das war also schon ‘mal erledigt und es würde sicherlich auch bei den noch folgenden Tankstellen so oder so ähnlich laufen. Die Möglichkeit, zunächst zu tanken und danach irgendwo an der Kasse zu zahlen, so, wie wir es in Deutschland gewohnt sind, gab es hier nicht, und ich vermutete, dass das wohl auch völlig normal sein würde. Das Gleiche habe ich übrigens in diesem Jahr auch schon in einigen anderen Ländern festgestellt; egal, ob in Norwegen, in Schweden, in Finnland, in der Schweiz oder in Italien, immer zahlt man direkt an der Zapfsäule! Hallo, in was für einem rückständigen Land leben wir in Deutschland eigentlich…? 😉
Als Übernachtungsziel für heute habe ich mir einen kostenlosen Parkplatz direkt am Meer, oben auf der Steilküste, ausgesucht, wo ich kurz vor 11:00 Uhr ankam. Er liegt direkt am Gold Beach, einem der fünf Strandabschnitte, nahe der Ortschaft Longues-sur-Mer.
Hier konnte ich bereits direkt vom Wohnmobil aus rechts von mir am Horizont die Überreste der gewaltigen Beton-Pontons sehen, mit deren Hilfe damals die beiden „schwimmenden Häfen“ gebaut wurden, die so genannten Mulberries. Das waren künstliche Nachschubhäfen, an denen große Frachtschiffe anlegen konnten; die dafür notwendigen Einzelteile wurden in England vormontiert und ab dem 7. Juni 1944, also einen Tag nach dem D-Day, vor der Normandie zusammengebaut. Mulberry „A“ gehörte zum Strandabschnitt Omaha Beach, wurde aber leider ein paar Tage später durch einen Sturm völlig zerstört; Mulberry „B“ lag vor dem Gold Beach.
Um diese Pontons aus etwas geringerer Entfernung fotografieren zu können, startete ich meine erste Radtour zunächst in östlicher Richtung, immer oben auf der Steilküste entlang. Dort gab‘s allerdings keinen Fahrradweg, sondern nur sehr schmale Trampelpfade, sodass ich mit meinem Bike höllisch aufpassen und häufig auch absteigen und schieben musste. Direkt vor die Ansammlung der Pontons zu kommen, wurde mir dann schließlich doch noch verwehrt, denn es gab kurz davor einen sehr tiefen Einschnitt, der durch einen kleinen Bach gebildet wurde; dort mit dem Fahrrad hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf zu kommen, war schlichtweg unmöglich! Also machte ich an dieser Stelle noch ein paar Fotos und drehte dann um.
Zurück am Wohnmobil, bereitete ich mich auf die zweite, deutlich längere Tour vor. Mein Hauptziel für diesem Tag war Omaha Beach, und zwar eben nicht nur der eigentliche Strandabschnitt, sondern ebenfalls der in unmittelbarer Nähe liegende, amerikanische Soldatenfriedhof, von dem ich schon so viel gehört hatte, sowie dem angeschlossenen, angeblich lohnenswerten Besucherzentrum. Die gesamte Tour hin und zurück würde knapp 35 Kilometer betragen.
Es ging auf überwiegend kleinen Straßen (keine Fahrradwege, aber eben auch kaum Verkehr; kannte ich ja schon…) und Feldwegen, bergauf und bergab, durch winzige Dörfchen, die zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs wahrscheinlich auch nicht viel anderes ausgesehen haben mögen, und durch den einen oder anderen Küstenort. Wie so oft schon, dachte ich auch hier wieder daran, wie schön es ist, eine Gegend per Fahrrad kennenlernen zu können; mit einem PKW oder Wohnmobil ist das in dieser Form einfach nicht möglich! Wandern wäre zwar auch eine Option, aber man hat dann natürlich nicht die Reichweite wie mit dem Bike.
Schließlich erreichte ich Colleville-sur-Mer. Dieser Ort, in dem knapp 200 Einwohner leben, bildet die östliche Grenze des Omaha Beach genannten Landungsabschnitts.
Hier bog ich jetzt nach rechts ab, in Richtung Meer. Dort angekommen, sah ich mir als erstes den eigentlichen Strand an. An einem der Zugänge stellte ich mein Fahrrad ab und lief dann in Richtung Wasser. Ein sehr, sehr schöner und einladender Strand, fand ich, sehr breit, mit goldgelbem, weichem Sand. Es waren ein paar Menschen zu sehen, die garantiert nicht wegen der historischen Bedeutung dieses Ortes hier waren, sondern einfach nur das Strandleben genossen.
Zeit für eine kleine Verschnaufpause! Ich setzte mich auf einen großen Stein, futterte eine Banane und sah dem Treiben der Strandbesucher zu.
Ich stellte mir vor, wie es genau hier wohl vor 72 Jahren, 3 Monaten und 5 Tagen ausgesehen haben mag. Die bekannten Szenen aus Filmen und Dokumentationen kamen mir in den Sinn, insbesondere diejenigen aus dem weltbekannten Blockbuster Der Soldat James Ryan; gerade diese Szenen hier am Strand zu Beginn des Films werden mir ewig in Erinnerung bleiben! Irgendwie ging jetzt meine Fantasie mit mir durch, ich fühlte mich plötzlich mitten drin im Geschehen, als eine Art unsichtbarer Beobachter, dem man nichts anhaben kann, als Zeuge eines Höllenlärms und eines unglaublichen Gemetzels, in dem die meist jungen GIs wie die Tontauben abgeschossen wurden! Weil mich hier nichts und niemand in meinen Überlegungen ablenkte, hatte ich plötzlich einen monumentalen Kloß im Hals und mir liefen ein paar Tränen herunter; ich verließ fluchtartig den Strand und ärgerte mich fast über mich selbst…
Ich wollte jetzt den amerikanischen Friedhof besuchen, der ganz in der Nähe liegt. Auf dem Weg dorthin sah ich mir aber noch ein anderes Monument an, das Monument to the Big Red One. Es wurde hier zu Ehren und zur Erinnerung an die gefallenen Soldaten der 1. US-Infanteriedivision aufgestellt, die wegen ihres markanten Schulterabzeichens auch heute noch The Big Red One genannt wird.
Die Hunderte Namen, die dort eingemeißelt waren, sind natürlich eigentlich nur bedeutsam für die Hinterbliebenen, die diesen Ort besuchen und den Namen ihrer gefallenen Angehörigen finden möchten. Mir fiel aber sofort dieser eine Name auf, dessen Buchstaben vergoldet waren: PINDER, JOHN J JR. Bei einer gerade durchgeführten Google-Recherche fand ich heraus, dass er Träger der höchsten amerikanischen Tapferkeitsauszeichnung ist, der Medal Of Honor, die ihm allerdings erst am 4. Januar 1945 posthum verliehen wurde; er starb genau hier, am Omaha Beach, gleich am ersten Tag der Invasion…
Danach erreichte ich endlich mein eigentliches Ziel, den amerikanischen Soldatenfriedhof. Seine offizielle Bezeichnung lautet World War II Normandy American Cemetery and Memorial. Er liegt auf einer kleinen Anhöhe am Strand, etwas westlich von Colleville-sur-Mer; genau dort gelang es den Soldaten der 1. und der 29. US-Infanteriedivision, am 6. Juni 1944 gegen 20:00 Uhr einen ersten Brückenkopf zu etablieren. Der Friedhof wurde bereits zwei Tage später, am 8. Juni 1944, angelegt; heute befinden sich dort 9.386 Gräber und ein Mahnmal für 1.557 vermisste Soldaten.
Vom Parkplatz aus führen Wegweiser zuerst zum Besucherzentrum (das ich aber erst zum Schluss besuchen wollte) und dann zu einem Aussichtspunkt mit Blick auf den Strand und einer auf einem Sockel montierten Orientierungstafel, die die ersten strategischen Bewegungen der Truppen im Bereich der fünf Strandabschnitte Sword Beach, Juno Beach, Gold Beach, Omaha Beach und Utah Beach in den ersten Tagen der Operation Overlord erläutert.
Von dort aus geht es dann auf einem kurzen Weg zum eigentlichen Friedhof.
Man blickt auf endlos lange Reihen weißer Kreuze und Davidsterne aus Marmor, aufgeteilt in die zehn Sektionen A bis J. Die gesamte Anlage machte einen sehr ästhetischen Eindruck, sowohl von ihrer Konzeption her als auch vom allgemeinen Pflegezustand.
Beim Anblick der Kreuze kam mir natürlich sofort wieder der vorhin erwähnte Film mit Tom Hanks in den Sinn; er beginnt ja eben mit genau dieser Szene auf dem Friedhof, in der der gealterte Soldat James Ryan mit seinen Angehörigen den Grabstein des Captain Miller (Tom Hanks) besucht; ein Kreuz mit seinem Namen wurde tatsächlich für den Film hier installiert und später wieder entfernt.
Am östlichen Rand der Anlage befindet sich eine gewaltige Denkmalanlage; sie besteht aus einer halbkreisförmigen Säulenreihe und zeigt an Wänden und auf Podesten Karten und Berichte der Militäreinsätze. An den Seiten sind auf Wänden die Namen von mehr als 1.500 vermissten Soldaten eingraviert; im Zentrum befindet sich eine Bronzesäule, die den „Geist der amerikanischen Jugend“ symbolisieren soll.
Der Kloß im Hals von vorhin, am Strand, war nun endgültig wieder da! Ich befand mich in der Nähe der Säulenreihe, als ich plötzlich von vielen, meist älteren Menschen umgeben war; es waren höchstwahrscheinlich wieder einige Busladungen von Besuchern angekommen, überwiegend Amerikaner. Ich schätze, dass sie wohl mehr oder weniger alle über organisierte Reisen hier eingetroffen sind, um diese auch in den USA sehr bekannte letzte Ruhestätte von gefallenen Soldaten zu besuchen. Kann natürlich auch sein, dass der ziemlich große Besucherandrang auch mit dem heutigen Datum zu tun hatte, denn wir haben schließlich den 11. September!
Eine junge Frau, vermutlich eine Reisebegleiterin, sprach über ein Megaphon, aber dennoch sehr leise, zu den Leuten, um ihnen einige Erklärungen zu dem Denkmal zu geben. Dann ertönte ein Glockenspiel, das die amerikanische Nationalhymne intonierte. Die Menschen um mich herum, aber auch die Besucher auf dem Friedhof, die man von hier aus der erhöhten Position sehr gut sehen konnte, wandten sich allesamt zum Denkmal hin, hielten inne und sangen, mit der rechten Hand am Herzen, ihre Hymne leise, aber in der Masse doch sehr eindringlich mit.
Nun war es endgültig um mich geschehen; mir liefen die Tränen nur so hinunter und ich wusste gar nicht, was ich tun sollte! Diesen Ort jetzt zu verlassen, wäre eine ziemlich unhöfliche Geste gegenüber allen Umstehenden gewesen, also blieb ich stehen, bis das Glockenspiel aufhörte. Nach ein paar weiteren, sehr leisen Worten der jungen Frau ertönte nun eine Fanfare mit einem Stück, das ich zwar nicht kannte, das mich aber sehr an das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“ von Ludwig Uhland erinnerte; auch dies trug nicht gerade dazu bei, meine Fassung wiederzufinden. Endlich war alles vorbei und die Menschenansammlung hier am Denkmal löste sich langsam auf; ich flüchtete mich sofort in das Besucherzentrum, das ja auch noch auf meinem Programm stand.
Dort ging es zunächst typisch amerikanisch zu: Taschen- und Rucksackkontrolle wie am Flughafen, Wachposten der MP an Ein- und Ausgängen. Der große Teil der Ausstellung befindet sich im Untergeschoss; hier gibt es eine schier unendliche Vielzahl an Info-Tafeln, Filmberichten, Übersichtskarten und Ausstellungsstücken. Ich sah mir vieles in Ruhe an, hatte aber immer noch mit meinem Gemütszustand zu kämpfen; sowas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert!
In einem großen Theatersaal gab es eine wirklich sehenswerte, etwa 30-minütige Dokumentation, die erfreulich pragmatisch aufgebaut ist, aber natürlich dennoch berührt; hier kam ich endlich zur Ruhe und konnte danach schließlich das Gebäude verlassen, ohne dass die Menschen sofort dachten, ich hätte einen ganzen Sack Zwiebeln kleingeschnitten…
Mein Rückweg zum Wohnmobil trat ich nach einer weiteren, kleinen Pause an. Das Wetter war unverändert schön, und ich passierte im Prinzip dieselben Orte wie auf der Herfahrt. In Port-en-Bessin-Huppain (was für ein „sperriger“ Name!) machte ich allerdings noch einen kleinen Abstecher und sah mir den dortigen hübschen Hafen an.
Kurz vor Erreichen meines WoMo-Stellpatzes besichtigte ich noch ein paar Bunker der Batterie Longues-sur-Mer, der einzigen deutschen Küstenbatterie des Atlantikwalles mit noch erhaltenen Kanonen in der gesamten Normandie.
Gegen 17:30 Uhr war ich wieder zurück auf dem Parkplatz und am Wohnmobil, wo ich mir nach der ganzen Radelei erst ‘mal eine Dose Bier genehmigte. Nach dem Abendessen habe ich mir wegen der heutigen Erlebnisse noch ‘mal das erste Drittel des Films Der Soldat James Ryan angesehen (ich hab’ eine mobile Festplatte mit „an Bord“, die ich an den Fernseher anschließen kann, und die Hunderte von selbst aufgenommenen Spielfilmen enthält). Nun hatte ich tatsächlich einen völlig anderen Bezug zur Handlung; alle Orte und geographischen Angaben sagten mir nun etwas, durch viele der im Film genannten Dörfer bin ich heute selbst gefahren. Die Anfangsszene, die ich ja weiter oben schon erwähnt hatte, machte mir jetzt auch wieder schwer zu schaffen…
Morgen will ich die Gegend um den Utah Beach erkunden; muss ich mir dann etwa eine zusätzliche Packung Taschentücher einstecken…?