Heute habe ich die erste größere Stadt auf meiner Baltikumreise besucht: Die an der Ostseeküste liegende Hafenstadt Liepāja ist mit ungefähr 78.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Lettlands. Sie hat eine sehr bewegte Geschichte hinter sich und war stets Spielball zwischen verschiedenen Großmächten, nicht zuletzt auch wegen ihres eisfreien Hafens.

Von meinem Campingplatz in der Nähe von Perkone fuhr ich auf der A11 immer in der Nähe der Ostseeküste bis nach Liepāja. Dort parkte ich auf einem riesigen, aber fast leeren Parkplatz nördlich des 3 km langen Jūrmala Parks und in unmittelbarer Nähe zum Strand, machte mein Fahrrad bereit und startet meine Tour wieder bei kaltem, aber sonnigem Wetter, zunächst in Richtung Ostsee.

Ganz besonders stolz sind die Einwohner der Stadt auf ihren kilometerlangen und bis zu 70 m breiten Strand, dessen Sand so sauber und fein ist, dass er im Russischen Reich ohne weitere Verarbeitung in Sanduhren verwendet wurde! Schon seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts war dies ein beliebter Badeort, sogar der russische Zar, seine Familie und der gesamte Hofadel kamen hierher zur Erholung.

Alle Anlagen im Park wirken sehr ansprechend und sauber, wenngleich es zu dieser Jahreszeit natürlich alles noch ein wenig karg aussah; auch hier wieder sah ich nur wenige Menschen, denn es war halt noch keine Saison, recht kalt, noch ziemlich früh und mitten in der Woche.

Der Eindruck, den diese Stadt auf mich machte, ist nur sehr schwer in Worte zu fassen! Mit dem Fahrrad ist man ja recht schnell unterwegs, ruck, zuck war ich von einem Stadtteil im nächsten, am Strand, dann über die Hafenanlagen wieder zurück in die Innenstadt. Dabei erlebt man so viel Unterschiedliches, dass sich daraus schnell ein Gesamteindruck ergibt.

Es wechseln sich uralte Gebäude, Fabrik- und Hafenanlagen, sehr schlechte Straßen, oftmals Kopfsteinpflaster und auch so manche Ruinen mit dann wieder neueren, sehr modern gestalteten Bereichen und Häusern ab und man erkennt so eine Art Aufbruchstimmung oder Wandlung der Stadt; man weiß nicht so recht, ob man das nun schön finden soll oder nicht! So viele abrupte Wechsel im Stadtbild auf so kurzen Strecken habe ich bisher noch nirgendwo auf meinen Reisen erlebt.

Dieses am Kanal gelegene supermoderne und angesagte Hotel mit Restaurants, Bars usw. befindet sich in einem alten Fabrikgebäude. Direkt davor steht die „Bernsteinuhr“, eine mit kleinen, von den Bürgern der Stadt gesammelten Bernsteinen gefüllte Sanduhr.

Der ca. 3 km lange Kanal, an dem auch das oben gezeigte Hotel liegt und an dem man auf der linken Seite prima entlang schlendern kann, verbindet den Liepāja-See mit der Ostsee und trennt die Altstadt von der Neustadt; er wurde bereits 1697 gegraben, weil der Fluss Līva, der sich durch den Hafen schlängelte, fast versandet war.

Nun war ich in der Altstadt angekommen, wo ich meistens lief statt fuhr, um mir wirklich alles in Ruhe ansehen zu können. Der Name Altstadt war hier mehr als Programm; so wie es hier aussah, könnte es wohl auch vor 100 oder 200 Jahren ausgesehen haben! Ich konnte nur noch staunen, was ich hier alles zu sehen bekam…

Die Markhalle auf dem Petermarkt gehört mit zu den schönsten Markthallen in Europa und ist ein echtes Juwel; dort muss man einfach gewesen sein! Die vielen Gerüche, das irgendwie wohltuende Gewusel von geschäftigen Menschen, die hier ein- oder verkauften, die Waren, die hier angeboten wurden und von denen ich die meisten sowieso nicht kannte… all das war ein unvergessliches „Erlebnis-Ensemble“, das ich so schnell wohl nicht vergessen werde!

Die zentrale Fußgängerzone hätte ich als solche wohl kaum erkannt, wenn ich nicht schon im Vorfeld gelesen hätte, wo sich sich befand; bei uns würde man so etwas wohl eher als Nebenstraße wahrnehmen.

Wenn man sich hier die verschiedenen Geschäfte so anschaut, dann fällt einem der wohl absolut größte Unterschied zu Deutschland oder zu anderen westlichen Ländern sofort ins Auge: bei uns gibt es Glas! Viel Glas! Unglaublich viel Glas! Bei uns besteht die Front fast aller Läden nur aus Glas und die Eingänge sind meistens sogar offen, selbst im Winter, dann eben mit Warmluft, die von oben nach unten „gepustet“ wird!

Hier ist dies komplett anders: Es handelt sich hier um ganz normale, wenn auch alte Gebäude, mit ganz normalen Türen, die man selbst(!) aufmachen muss, wenn man hinein will! Unglaublich! Und die Türen gehen manchmal auch nur sehr schwer auf, sie leisten aktiven Widerstand, sie ächzen, stöhnen und knarren, und nicht selten ertönt auch ein kleines Glöckchen, um dem Personal zu signalisieren, dass ein Kunde den Laden betreten hat. Auch Auslagen oder große Schaufenster im bekannten Sinn sind hier kaum vorhanden! Betritt man aber einen Laden, so haut‘s einen fast von den Socken: Drinnen sieht es oftmals deutlich moderner und eleganter aus als bei uns! Das ist meine Erkenntnis des Tages! 😉

Eine der hübschen Kirchen in der unmittelbaren Nähe des Petermarkts, die Kathedrale St. Josef, 1894 bis 1900 erbaut.

Auffällig in Liepāja sind auch die vielen teils leerstehenden, teils aber auch noch bewohnten Holzhäuser; sie bilden das historische Zentrum der Stadt.

Nachdem ich mich ausgiebig im südlich des Kanals gelegenen Teil der Stadt umgesehen hatte und wieder zu meinem Wohnmobil zurückgekehrt war, machte ich eine kleine Pause und fuhr dann aus der Stadt hinaus Richtung Norden, allerdings nicht, um die Stadt endgültig zu verlassen. Mein nächstes Ziel war der Ortsteil Karosta, eigentlich eine Stadt in der Stadt, die ich über einen großen Bogen zuerst nach Norden, danach in Richtung Ostsee und schließlich wieder ein Stück zurück nach Süden erreichte.

In der Sowjetära war die gesamte Stadt ein einziger militärischer Sperrbezirk; ohne Sondergenehmigung kam man nicht hinein. Karosta, der Stadtteil nördlich des Hafenbeckens, war ausschließlich dem Militär vorbehalten. Heute gammeln die damals stattlichen Offiziersunterkünfte, die schon in der Zeit des Zaren Alexander III. gebaut wurden, vor sich hin, und die breiten, endlos langen Alleen wirken leer und verlassen. Hier kam ich mir nun endgültig wie auf einem andern Planeten vor!

Ich parkte mein Wohnmobil wieder auf einem im Reiseführer angegebenen Parkplatz, der leider nur über eine echt üble Sand- und Schotterstraße zu erreichen war, schnappte mir wieder mein Fahrrad und erkundete die Gegend!

Mein eigentliches Ziel war allerdings die gleich neben diesen Gebäuden liegende russisch-orthodoxe Nikolai-Kathedrale, die in dieser unwirklichen Szenerie in vollem Glanz erstrahlte! Einen größeren Gegensatz zu den gespenstig wirkenden, weil schon fast verfallenen Kasernengebäuden kann man sich kaum vorstellen!

Drinnen herrschte geschäftiges Treiben; eine Art Putzkolonne scheuerte wie wild den Boden und die gesamte Einrichtung, als ob‘s kein morgen gäbe! Fotografieren durfte man leider nicht, und ein uraltes „Mütterchen Russland“ kam wie der geölte Blitz auf mich zugerannt, als ich eintrat, weil ich nämlich meine Wollmütze, die ich wegen der Kälte angezogen hat, noch auf dem Kopf trug! Das Innere der Kirche ist überwältigend; ich finde keine Worte, es zu beschreiben…

Eine weitere Attraktion in Karosta ist das alte Militärgefängnis, das ebenfalls schon zur Zarenzeit in Betrieb war. Heutzutage werden hier nur noch Touristen „inhaftiert“, natürlich gegen Bezahlung! In einer Art Reality Show kann man hier eine Nacht in einer Zelle verbringen, ruppige Wachen, schlecht sitzende Kleidung und Gefängnisessen eingeschlossen! Nur ganze 17 Euro pro Nacht kostet der „Spaß“, ein echtes Schnäppchen… 😉

Ich musste mich einmal mehr mit einem Foto von außen begnügen, denn das Gefängnis „öffnet“ erst ab Juni! Während ich fotografierte, kam plötzlich jemand hinter mir auf mich zu und sprach mich an. Ich erschrak mich und sah mich um; daraufhin rutsche mir mein Herz, was gerade erst in der Hose angelangt war, nun endgültig bis in die Zehenspitzen runter! Vor mir stand… ein russischer Gefängniswärter, in voller Montur, gefühlte 2,50 m lang und womöglich genauso breit! Seine Filzmütze mit dem Sowjetstern flößte mir, glaube ich, den meisten Respekt ein, und sein tiefer Bariton, gegen den Lee Marvins Stimme wie ein piepsendes Vögelchen klingen müsste, trug auch nicht gerade dazu bei, mich zu entspannen!

Dann aber ergab sich ein kleines Gespräch, sogar auf deutsch, bei dem sich herausstellte, dass es sich um den wohl freundlichsten jungen Mann handeln musste, dem man hier überhaupt begegnen konnte; ein echt sympathischer Kerl! Er erzählte mir ein wenig über seine Arbeit hier, über das Gefängnis und seine Geschichte, und er freute sich offenbar selbst über die Abwechslung, mit jemandem reden zu können. Und er entschuldigte sich dafür, dass das Gefängnis noch nicht geöffnet hatte und dass ich doch bitte im Juni noch ‘mal wiederkommen sollte! Vor lauter Schreck hab’ ich doch glatt vergessen, ihn um ein Foto zu bitten, schade…

Nach diesem unglaublichen Erlebnissen in Karosta fuhr ich nun endgültig aus der Stadt heraus, denn ich musste ja noch einen geeigneten Platz zum Übernachten finden.

Ich steuerte einen Picknickplatz kurz vor der winzigen Ortschaft Jūrkalne an, den ich über eine Abzweigung von der P111 nach links erreichte, und auf dem lediglich ein riesiger Bus parkte. Zu ihm gehörte eine Gruppe von Jugendlichen, wahrscheinlich eine Schulklasse, die am lichten Waldrand herumtollten und ein paar Lagerfeuer angezündet hatten, um sich Würstchen oder ähnliches zu braten.

Ich suchte mir einen geeigneten, möglichst ebenen Stellplatz für mein Wohnmobil und gönnte mir danach eine etwas verspätete Kaffeepause. Kurze Zeit später fuhr der Bus weg und ich stand dort, wieder ‘mal, völlig allein. Kurze Zeit später machte ich noch einen kleinen Spaziergang zum Strand und an die hier besonders hohe Steilküste; dieses Mal gab es kaum Wind und ich genoss die etwas aufwärmende Sonne.

Jetzt hab’ ich mein Wohnmobil „verriegelt und verrammelt“, und ich werde gleich schlafen gehen; ist doch immer wieder ein etwas mulmiges Gefühl, so ganz allein auf einem völlig abgelegenen Platz zu stehen und übernachten zu wollen, aber wird schon gut gehen… 😉

Übrigens: Hier gibt‘s WIFI! Nicht zu glauben! Und dazu noch offen, d.h. ohne Passwort, und super schnell! Ich habe mich bemüht, aber leider nicht herausgefunden, wie das überhaupt möglich war. Jedes Gebäude in der Umgebung war viel zu weit entfernt, und auf oder am Platz hab’ ich keinerlei Antennen oder Masten gefunden. Was soll‘s, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul… 😉

3 Kommentare zu “Ärger mit „Mütterchen Russland“”

  1. Hah! Meine Frau guckt sich ganz begeistert auch Deine tollen Fotos an, Wolfgang. 2005, 2007 und 2009 hat sie zusammen mit ihrer Freundin Tallinn, Liepaja und Vilnius (in dieser Reihenfolge) per Fähre besucht. Mangels eigenen Gefährts waren die Mädels zwar auf fußläufige Entfernungen im Stadtgebiet beschränkt – aber das, was sie nicht sehen konnten, lieferst Du ja hier dankenswerterweise nach!

    WoMo und Fahrrad ist schon 'ne tolle Kombi!

    Bernd

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